The Shining – revisited

Als im Herbst 1980 aus den deutschen Radios eine Stimme verkündete: „Die Woge des Schreckens, die Amerika überflutete, ist auch bei uns angekommen!“, zog es uns ins Kino, damit wir den Sensationsfilm selbst erleben konnten. Shining war meine erste Begegnung mit Stephen King und mit dem Kino von Stanley Kubrick. Ich war gerade 16 geworden, als ich in Erwartung großen Horrors im Klappsitz Platz nahm. Doch der Horror stellte sich nicht ein, der Film ließ mich merkwürdig kalt. Andere Besucher zitterten noch, als sie längst wieder auf dem Heimweg waren. Ich verstand nicht, was sie so erschüttert hatte. Vielleicht verstehe ich es heute noch nicht, doch warum mich die Woge des Schreckens damals nicht überflutete, das weiß ich jetzt. Denn ich habe mir den Film nun noch einmal angesehen.

Shining ist der einzige „übernatürliche“ Film von Stanley Kubrick, was auffällig ist. Auch wenn 2001 mysteriös und transzendent erscheinen mag, steht er auf wissenschaftlichem Boden. Seine Bilder sind für uns rätselhaft, weil sie von einer überlegenen außerirdischen Existenz zu erzählen versuchen und davon, dass sie uns Menschen beinahe zwangsläufig mysteriös oder eben übernatürlich vorkommt. In Shining geschehen ganz offensichtlich Dinge, die unmöglich sind. Shining ist eine fantastische Parabel. Wie viele andere Filme, aber eben nicht die von Kubrick. Und wie andere fantastische Filme erzählt er von der menschlichen Psyche. Die ist seit jeher bevölkert von Monstren, Geistern und anderem Unerklärlichem. Also ist ein Film wie Shining auch irgendwie realistisch.

Doch parabelhaft das „Große Bild“ symbolisch zu verstehen, darum kommt man hier nicht herum. Das Phänomen des „shining“, der Hellseherkraft, der Telepathie, derer der kleine Danny, Sohn des saisonalen Caretaker-Ehepaares fähig ist, ist gar nicht so weit entfernt von der normalen kindlichen Sensibilität, vor allem der für den Zustand der elterlichen Beziehung, für die existenzielle Lage, in der sich das Kind befindet. Und genau darum geht es in Shining. Die existenzielle Lage des Jungen ist besorgniserregend. Die Ehe seiner Eltern, symbolisiert durch das entrückte, isolierte, menschenleere Hotel, ist ein Haus voller böser Geister, voller Geheimnisse und entsetzlichster Gewaltgeschichten und bald auch noch ohne jeden Kontakt zur Außenwelt. Für den Vater, die Mutter, das Kind: eine Falle. Shining ist ein symbolischer Film über das katastrophale Entgleisen der Ehe zweier hilfloser, labiler Eltern. Deshalb hat er mich 1980 nicht erreicht. Der Junge, der in einer ähnlichen Lage war wie Danny, ich hatte ihn schon lange in eine dicke Hülle des Verdrängens gepackt.

In Kubricks Film erkenne ich auch jetzt nicht den Horror der Blutfontänen und Wasserleichen, sondern den, von dem all das hervorgebracht wird. Den, der immer wieder Paare und Familien heimsucht. Die eskalierende Übernahme der familiären Psyche durch Wahnbilder und unverarbeitete Gewalt der Vergangenheit. Im Laufe des Films sehen alle drei Familienmitglieder die Geister des Hotels, hören ihre Stimmen, begrüßen sie oder laufen vor ihnen davon.

Wenn Vater Jack, bereits „drüber“, an die Tür klopft, hinter der sich seine Frau Wendy in Todesangst vor ihm versteckt, schlüpft er amüsiert in die Rolle des Wolfes, der ins Haus der Kleinen Schweinchen eindringen will und benutzt dessen Spruch, bevor er mit voller Kraft die Axt ins Holz schlägt. Der Blick, in den er ab einem gewissen Punkt der Geschichte immer wieder verfällt, ist eben der des „Wolfes“, des zum Angriff entschlossenen Raubtiers. Dieser Blick begegnet uns in mehreren von Kubricks Filmen, besonders in Clockwork Orange und Full Metal Jacket. Immer bei Menschen, die die Schwelle zur ultimativen Tat überschreiten, zur Affektabfuhr durch Gewalt. Diese nüchternen Bezeichnungen muss man wählen, denn „böse“ war für Kubrick keine brauchbare Kategorie. Der Horror durch bloße Schlüsselreize hat ihn nie interessiert.

Beim Stichwort „Wolf“ kommt natürlich sofort die Verbindung auf zu meinem Essay über beschädigte Männer. Und die ist in Shining kaum zu übersehen, bei all den Bezügen zu vergangener Gewalt in dem Hotel, zu begangenem Frevel, auf dem das Hotel – „Es soll hier früher mal einen Indianerfriedhof gegeben haben“ – buchstäblich erbaut ist. Der Satz, den Jack mit seiner Schreibmaschine tausendfach und in so ziemlich jeder möglichen Absatzform (Prosa, Drehbuch, Theaterstück, Lyrik, konkrete Poesie u.a.) auf unzählige Blatt Papier gehämmert hat, ist Ausdruck unbewussten Zorns. Im scheinbar leeren Hotel, der Beziehung/Ehe, bricht er sich Bahn gegen die hilflose Partnerin, die einer Co-Abhängigen gleicht. Danny ist dabei der Kollateralschaden, der, sofern er überlebt, den Zorn als Erwachsener auch auf jemanden richten wird (in der Shining-Fortsetzung Doctor Sleep tut er es gegen sich selbst, ist ein von Wahnbildern geplagter Alkoholiker).

Kubrick hat mit Shining nicht den ersten tiefgründigen Horrorfilm gemacht, denn sie alle, selbst die billigsten, dümmsten, oberflächlichsten Horrorfilme appellieren an sogenannte „tiefe“ Urängste. Kubricks Film allerdings zielt eigentlich gar nicht auf diese sehr allgemeinen Reize. Er beschreibt mit seiner ausgesprochen klaren, geometrisch komponierten Bildsprache und den fast automatenhaft kargen Dialogen in einer nur wenig überhöhten Geschichte einen sehr verbreiteten Vorgang. Überhöht – wie soll man anders von innerpsychischen Vorgängen filmisch erzählen, als sie in beredte Bilder umzusetzen? Das Drama endet denn auch in einem bitterkalten Labyrinth (Jacks wahnhafte Psyche), aus dem der Verlorene keinen Ausweg mehr findet. Fest gefroren ist sein Wolfsgesicht, im Tod ist er sein eigenes schreckliches Mahnmal der Grausamkeit von Generationen.

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