ATHENA – Adieu, Mann!

Romain Gavras, Regisseur des spektakulären Netflix-Dramas „Athéna“, hatte die klassische griechische Tragödie im Kopf, als er den Film entwarf. Als er ihn filmte, waren es Vorbilder wie „Children of Men“, „The Revenant“ und „1917“. Eine Empfehlung.

Selten, vielleicht noch nie zuvor hat man so etwas in einem Film gesehen. Nicht in dieser Menge, in dieser Frequenz und mit diesem Aufwand. Plansequenz reiht sich an Plansequenz in diesem Spielfilm über einen eskalierenden Aufstand in einer Siedlung der Pariser Vorstädte, atemberaubende Fahrten verwandeln sich übergangslos in intensive, ja intime Großaufnahmen der Protagonisten in ihren Zimmern oder Kellern, nur um gleich zu Panoramen aus der Vogelperspektive über der qualmenden Wohnanlage zu werden, auf deren zentralem Platz es zugeht wie im Weltkrieg. Die Bildsprache zitiert sehr bewusst neuere Filme über gescheiterte Ordnungen, über Krieg, über Männer. Dahinter steckt eine unvorstellbar aufwändige Vorbereitungsarbeit, modernste Kameratechnik und ohne Zweifel auch CGI, die man jedoch nicht bemerkt. Hunderte von Kompars*innen, zwei gegnerische Blöcke (junge Männer der Banlieu und die Polizei) und dazwischen die friedlichen Bewohner*innen der Wohnblöcke – Familien, Kinder. Doch die tauchen nur am Rande auf und fliehen, so gut sie können. Um was es hier eigentlich geht, sind die Männer, die nicht mehr weiter wissen.

Wenn ich von zwei Blöcken rede, stimmt das nicht ganz, denn es sind eigentlich drei, dazu aber später. Die Konfrontation wird ausgelöst von einem Mord an einem Jungen aus der Siedlung. Auf dem Video, das im Internet kursiert, sieht man drei Polizisten die Tat begehen, kaltblütig. Doch anstatt den Ermittlungsbehörden zu vertrauen, zu denen auch einer der Brüder des Opfers zählt, nehmen die Jungs aus der Banlieu die Sache selbst in die Hand, brennen die Polizeiwache nieder und die Stadt, das ganze Land stürzt in Chaos. Auch der Anführer dieser Truppe ist ein Bruder des Opfers. Soviel zur griechischen Tragödie. Was auffällt: Wohin man auch sieht, überall nur Männer. Meist junge Männer oder Jungs, die gerade dabei sind einer zu werden. So einer wie die, die es schon sind. Bei der Polizei, bei den Randalierern spielen Frauen so gut wie keine Rolle. Das Adrenalin hat sie alle im Griff – aber sie sich selbst nicht mehr.

Die „Logik“ dieser Haltlosigkeit ist: Eskalation. Die Antwort auf Gewalt ist Gewalt. „Wenn sie töten, töten wir!“ Der einzige Ausweg aus diesem Gefängnis des Adrenalins ist Zerstörung, Tod. Es gibt nichts zu beschönigen: Die Situation der Banlieus ist drückend, ungerecht, oft ohne jede Perspektive. Doch diese Situation trifft auf Gemeinschaften, die die traditionelle männliche, die kämpferische Figur vorgeben. Jede andere Perspektive bleibt im Hintergrund, wenn es drauf ankommt. Das gilt nicht nur für die jungen randalierenden Männer, die in dem Film fast völlig unter sich sind, junge Frauen? Fehlanzeige. Das gilt ebenso für die militarisierte Polizei. Für einen Hammer ist alles ein Nagel. Das Scheitern, die Schwierigkeiten der „Problemkieze“ in Frankreich, in Deutschland und an vielen anderen Orten haben selbstverständlich ihre Ursachen in der schwierigen sozialen Situation ihrer Bewohner*innen. Aber, beabsichtigt, oder nicht, „Athéna“ zeigt den Verantwortlichen, dem sie fast überall gleichermaßen folgen. Ausweglos empfinden sie ihre Lage und manövrieren sich doch in die letzte Ausweglosigkeit selbst hinein, sich selbst und viele mit ihnen.

Die gewaltfrei protestierenden Frauen im Iran setzen Zeichen gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung durch die Mullah-Männer, und es ist gut und eigentlich selbstverständlich, dass Männer sich ihnen im Protest anschließen, ein Zeichen der Hoffnung und Veränderung auch bei ihnen. Der „traditionell-männlich- soldatische“ Weg aber, in „Athéna“ ist er dargestellt in einer spektakulären Apotheose des Untergangs. Nun zum dritten „Block“ der gegnerischen Einheiten. Sie bleiben im Film lange im Verborgenen – untypisch für sie – und sind doch geradezu der Prototyp der Kämpfer-Männer: neofaschistische Extremisten mit Kreuz-Tattoo auf dem Nacken. Der Kampf als letzter Lebenszweck. Sehen die drei Blöcke, wie ähnlich sie einander sind? Wir zumindest sollten es sehen.

Hinterlasse einen Kommentar