Mein Werwolf. Lesen einer Fährte

Ein Essay über Angst, Männer und die zerstörerische Kraft des Verschweigens (Auszug)

Dies ist ein recht langer Essay. Ich empfehle, möglichst die „Leseansicht“ Ihres Browsers zu verwenden.

Ein US-Straßenkreuzer fährt nachts eine Tankstelle an. Während sich das schaukelnde 70er-Jahre-Ungetüm der Zapfsäule nähert, wird auf dem Dach der Limousine kauernd eine Gestalt erkennbar. Es ist ein Wesen mit menschlichem Körper in einem Smoking, aber mit behaarten Füßen, Klauen und einem gänzlich behaarten Wolfsgesicht mit mörderischen Fangzähnen. Es wartet ab, bis die Fahrerin des Wagens aussteigt und stürzt sich dann, als sie es bemerkt und schreiend im Tankwarthäuschen Schutz suchen will, auf sie. Schnitt.

Der Film „Der Werwolf von Washington“ von 1973 wurde am 4. Mai 1977 im Deutschen Fernsehen im Spätprogramm gesendet und ist ein eher untypisches Beispiel für das kritische, politische, junge US-Kino der damaligen Epoche. Und er machte mir, dem es irgendwie passiert war, viel zu spät in genau dieser Mittwochnacht vor dem einzigen Fernsehgerät im Haus zu sitzen, ein unbeabsichtigtes Geschenk. Er schenkte mir die Angstfigur, die augenblicklich alle bisherigen aus meiner Psyche verjagte und für die nächsten fast dreißig Jahre die Herrschaft über meine Amygdala, mein neuronales Angstzentrum, übernahm und weit, sehr weit darüber hinaus.

Ich habe diesen Text nicht mit jenem Ereignis begonnen, weil es vorher keine Werwölfe gegeben hätte, in Sagen, Geschichten oder Filmen – die gibt es schon seit Jahrtausenden – , sondern weil die Begegnung mit diesem eher kleinen, eher menschlichen Werwolf auf dem kümmerlichen TV-Bildschirm meine erste Begegnung mit dem Wolfsmenschen war und weil es mir hier nur am Rande um die Historie dieser Sagengestalt geht. Doch lässt sich beides auch nicht trennen. Wenn ich mich richtig erinnere, saß ich in jener Nacht nicht allein vor dem Fernseher in der „guten Stube“. Auf seinem Stammplatz, dem Sofa, lag mein Vater und schaute ebenfalls dabei zu, wie der Wolfsmensch ein Opfer nach dem anderen zerriss. (Der Hauptdarsteller, Dean Stockwell, das erkenne ich jetzt beim Wiederansehen des Films, sah ihm sogar ähnlich.) Dass der Werwolf mich von dieser Nacht an bis weit ins Erwachsenenalter immer wieder bis fast zum Wahnsinn verängstigen, mir den Schlaf rauben, mich nachts panisch vor Angst auf dem Fahrrad durch den Wald hetzen lassen und für viele Jahre meine Beziehungen zu anderen Menschen in einen Würgegriff nehmen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, und das war, wenn man es überhaupt so nennen kann, wirklich gut so. Lange Zeit konnte ich mir auch nicht erklären, warum ich von gerade diesem Monstrum so hartnäckig verfolgt wurde. Doch beides änderte sich irgendwann, viel zu spät, aber immerhin. Und sogar erst jetzt, wo ich für diesen Text die Veröffentlichungsdaten des Films recherchiere, erkenne ich staunend, aber dann doch wenig überrascht, dass ich zwölf Jahre alt war, als er gesendet wurde. Denn diese Lebensphase, dieses Alter und nun sogar das Datum gaben meinem ganzen Leben eine Wendung, über die ich in mehr als einem bloßen Nachsatz zu schreiben haben werde.

Bis zu der Nacht im Mai1977 hatte ich unterschiedliche Verkörperungen und Verbildlichungen meiner kindlichen Angst erlebt. Die unkonkreteste und womöglich früheste von allen war das Dunkel. Dunkelheit in der Nacht, ein dunkler Raum hinter einer offenen Tür, der dunkle Keller oder die dunkle Ecke unter der Treppe, wo die Kartoffeln geholt werden mussten. Sie jagten mir Angst ein, Schauer über den Rücken, hinderten mich, dorthin zu gehen oder Ruhe zu finden und einzuschlafen. Konkreter wurde diese Angstvorstellung erst einmal nicht, keine bestimmte Figur verband sich damit, es war bloße Angst vor der Dunkelheit. Allein war sie fast unerträglich, in Gesellschaft schwächte sie sich deutlich ab, löste sich mitunter völlig auf. Das galt auch für alle weiteren und späteren Ausformungen meiner Angst.

Es gab akustische Verkörperungen oder Auslöser. Wenn die Titelmusik des „ZDF-Magazin“ mit ihrem abschließenden kräftigen Bass-Ostinato aus dem Fernsehgerät wummerte, hielt ich mir vor Angst die Ohren zu. Wenn der Sprecher der Asbach-Uralt-Werbung den unvermeidlichen Slogan „In Asbach Uralt ist der Geist des Weines“ aussprach, verkroch ich mich hinter dem nächsten verfügbaren Sitzkissen, aus Angst vor diesem unbekannten Geist.

Umrissene Angstfiguren, also Verkörperungen, tauchten erst auf im Zusammenhang mit entsprechenden Angeboten von außen. Die frühesten dürften Märchen gewesen sein. Der Teufel, der böse Wolf, die Hexe aus den grimmschen Märchen von der Schallplatte oder aus Kindersendungen im Fernsehen waren dann angstbesetzte Figuren. Die Schallplatte „Peter und der Wolf“ konnte ich nicht allein anhören, und selbst wenn meine Geschwister oder ein Freund dabei waren, überfielen mich bei dem tiefen, bedrohlich ansteigenden Hornmotiv des „großen grauen Wolfs“ heftige Fluchtreflexe. Allein der Anblick der Illustrationen auf dem Plattencover, besser gesagt der des Wolfes, ließ mich zutiefst erschauern.

Dann gab es noch Traumgestalten: zwei gorillaähnliche Wesen, die meine Eltern, nicht ganz zutreffend, aber erkennbar, darstellten, einen bedrohlichen männlichen und einen beschützenden weiblichen. Wie gesagt, das traf die eigentliche Sachlage nicht ganz und gar. Und der riesige Saurier, der durch die Straße unserer Wohnsiedlung trampelte. Er entsprang ohne Zweifel dem Bildband „Die Welt in der wir leben“, den ich als Kind fasziniert, ausgiebig und mit Gänsehaut durchblätterte und dessen eindrucksvolle Saurier-Illustrationen ich bestaunte, auch den T-Rex, der gerade ein Opfer zerriss. Dem Traum-T-Rex begegnete ich später unerwartet wieder, in erstaunlicher Übereinstimmung zu meinem Kindheits-Alptraum, nämlich im zweiten Teil von Spielbergs „Jurassic Park“, wo eben ein Tyrannosaurus durch eine spießige Wohnsiedlung trampelt.

Sie alle, ob unkonkret oder körperhaft, ob wach oder schlafend erlebt, waren mit tiefer Angst verbunden, hatten aber außerdem noch eins gemeinsam: Sie eigneten sich bloß dazu, meine Angst irgendwie bzw. für einen Moment zu erregen oder zu verkörpern, mehr aber nicht. Sie waren nicht dauerhaft und nicht präzise. Am 4. Mai 1977 schätzungsweise gegen elf Uhr nachts änderte sich das grundlegend.

Kinder haben Angst. Sie kennen die Welt noch nicht, werden noch von ihrer Offenheit, ihrer Fantasie, ihrem intensiven emotionalen Erleben bestimmt, müssen sich von ihrem direkten Umfeld vieles abschauen, sind auf Gedeih und Verderb abhängig von ihren Eltern, und das bringt, für manche mehr, für manche weniger, auch Angst mit sich, denn sie gehört zum emotionalen Erleben. Eltern fragen ihre Kinder, wenn sie den Eindruck haben, sie sind verängstigt. Kinder klettern zu ihren Eltern ins Bett, sagen ihnen, dass sie Angst haben, schlecht geträumt haben. Sie pflegen liebevolles Vertrauen ineinander und darin finden die Kinder Geborgenheit und Schutz vor der Angst. Das ermöglicht den Kindern irgendwann, auch diese intensiven Gefühle besser zu verstehen und mit ihnen umzugehen, sich selbst nicht als hilflos ihnen gegenüber zu erleben. So sollte und kann es laufen. Bei mir, in meiner Familie, lief es nicht so. Denn die nie versiegende Quelle der Angst befand sich mitten unter uns und war auf der einen Seite umgeben und geschützt von einem Schweigegebot, auf der anderen gespeist aus Propaganda. Das Schweigen machte es unmöglich, offen über all das Angstmachende zu kommunizieren, die Propaganda befeuerte und festigte die Umstände als unabänderlich, als Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. Unmöglich für ein Kind, darin die Geborgenheit zu finden, die nötig ist, um mit Angst, um mit Gefühlen überhaupt umzugehen zu lernen, mitunter für den Rest seines Lebens.

Worüber war zu schweigen? Auch dazu finde ich bei der Recherche zu diesem Text ein aufschlussreiches Dokument. Von Lukas Cranach dem Älteren existiert ein Holzschnitt aus dem Jahr 1512 mit dem Titel „Der Werwolf“. Es zeigt einen Mann, einen Wüterich auf allen Vieren, mit zerrissenen, bäurischen Kleidern am Leib und einem schreienden Baby zwischen seinen Zähnen. Sein Blick ist irre, sein buschiger Vollbart und seine wild zerzausten Haare erinnern an den „Werwolf von Washington“. Zwei Haarsträhnen stehen überdies so vom Kopf ab, dass sie wie behaarte Tierohren wirken. Der Mann ist barfuß, hat ziemlich große Hände und Füße, die aber nur entfernt an die Klauen eines Raubtieres denken lassen. Er hat also keinerlei eindeutige Tier- oder Wolfsmerkmale. Um ihn herum liegen grausam zugerichtete Leichen, soweit erkennbar, mehrheitlich Frauen. Abgerissene Köpfe und andere Gliedmaßen, hervorquellende Eingeweide, Blut überall. Der „Werwolf“ bewegt sich weg von einem Bauernhaus, in dessen Eingangstür ein kleines Kind sich an eine verzweifelte Frau klammert, vermutlich seine Mutter, ein weiteres Kind rennt in der entgegengesetzten Richtung des Monstrums von einem Graben, wo es sich wohl versteckt hatte, zu der Frau, die vielleicht seine Mutter oder Großmutter ist. Möglicherweise gehört die Mutter der beiden aber auch zu den zerfetzten Leichen am Boden vor dem Bauernhaus, es war ja üblich, dass mehrere Generationen zusammen auf einem Bauernhof lebten. Verborgen hinter einem Holzverschlag am Haus ist neben einer Kuh ein Mann zu erkennen, der sich versteckt hat. Ein Hund läuft aufgeregt hinter dem Monster her und verbellt es. Dahinter paddelt eine Ente ruhig auf ihrem Teich herum. Der „Werwolf“ gehört mit seiner Bauerntracht offensichtlich zum Gehöft und nicht zu der herrschaftlichen Burg, die weit im Hintergrund auf einem Hügel thront. Er gehört zum Hof, vermutlich ist er der Patriarch. Und er hat alle Hofbewohner und Familienmitglieder auf dem Gewissen, ob durch körperliche oder seelische Zertrümmerung. Betrachte ich dieses Bild, sehe ich meinen Vater.

Natürlich kroch mein Vater nicht den ganzen Tag wie ein Tollwütiger auf allen Vieren durchs Haus und fraß kleine Kinder oder riss Körper in Stücke. Aber er konnte sich urplötzlich und für uns Kinder völlig unvorhersehbar in das grauenvolle Monster verwandeln. Was er anrichtete, manchmal leise und im Verborgenen, meist aber brüllend laut und mit brachialer Gewalt, kann ich nur als Gemetzel bezeichnen, als Verletzung, Zerstörung und als blindwütige Unterwerfung und Inbesitznahme seiner Frau und jedes der neun Kinder, die dem Akt des körperlichen Einverleibens sehr ähnlich ist. Er hat sich von ihnen ernährt.

Seine Überfälle, Ausfälle, Angriffe und Übergriffe alle aufzuzählen, ist weder möglich noch notwendig. Wichtig ist, dass er seine traditionelle Position als Patriarch, seine schiere körperliche Überlegenheit und das im besten Fall teilnahmslose nähere und gesellschaftliche Umfeld dazu nutzte, seinen Willen, seine Wünsche und seine Vorstellungen durchzusetzen – und sich selbst zu stärken und zu vervollständigen, „Dampf abzulassen“. Ohrfeigen, seltener Prügel, meistens Gebrüll, Demütigung, Einschüchterung gegenüber seinen Kindern wie auch seiner Frau, jahrzehntelange sexuelle Unterwerfung seiner Frau mit offener Brutalität, vermutlich auch mindestens einer seiner halbwüchsigen Töchter, die viel später, als einzige in der gesamten Verwandtschaft, an Krebs starb. (Ich schreibe „vermutlich“, weil alle, die dies und anderes verlässlich hätten aussprechen können, sich an das Gebot des Schweigens gehalten und das womöglich mit der eigenen Gesundheit und dem Leben bezahlt haben.) Wie, so drängt sich spätestens jetzt die Frage auf, wird ein ziemlich durchschnittlicher Mann zum Werwolf? Der Mythos gibt die Antwort: Der Mann wurde angegriffen. Von einem anderen Werwolf. Und er hat überlebt.

Klaus Theweleit, Alice Miller und andere haben über die Genealogie der Werwölfe geschrieben, auch wenn sie sie nur manchmal so nannten. Ich nenne diese beiden namentlich, weil ich zu ihnen eine besondere Beziehung und Bekanntschaft haben durfte, und weil sie die historisch und psychologisch grundlegendsten und bedeutendsten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zu diesem Thema erarbeitet haben. Miller fand die anschauliche Formel von der „Schweigemauer“, die über endlose Generationen hinweg aufrechterhalten wird und keinen anderen Zweck hat, als Täter-Eltern und unser falsch-positives Bild von ihnen zu schützen, was zu endlosen Wiederholungen der Tat führt. Theweleit untersuchte den „soldatischen Mann“, spricht von der 12000 Jahre währenden (nahezu weltweiten) Bevorzugung und Hervorbringung aggressiver, gewaltbereiter Männer durch Erziehung, Anerkennung und gewaltorientierte Praxis in Rivalität, Patriarchat, Kampf und Krieg. Was da stattgefunden hat, ist eine viele Generationen übergreifende Auswahl. Keine genetische, denn es gibt kein „Gewalt-Gen“, sondern eine epigenetische, welche sich nicht ins Genom einschreibt, aber vererbbar ist und, das ist wichtig, durch veränderte Umstände veränderbar. Außerdem fand eine psychische bzw. neurologische Prägung und Auswahl statt. „Gezüchtet“ wurde ein Typ Mann, der nur unvollständig sozialisierbar und zivilisierbar ist und dessen Ausbrüche ins sogenannte „männlich-Ursprüngliche“ gesellschaftlich immer akzeptiert, wenn nicht gar erwartet wurden. Diese Art Mann galt und gilt oft noch heute als „natürlich“. Die Vorstellung ist allerdings so falsch, wie die antrainierte Aggression eines Kampfhunds als „angeboren“ zu betrachten, und sie hat erst vor kurzem und allmählich begonnen, sich zu ändern. Eine 12000-jährige Praxis – seit der Sesshaftwerdung unserer Spezies – schüttelt man nicht einfach ab, aber „natürlich“ ist sie nie gewesen.

Werwolf. Es gibt gleich zwei soldatische oder nationalsozialistische Organisationen dieses Namens. Der „Wehrwolf“ war laut WIKIPEDIA ein Bund deutscher Männer und Frontkrieger, ein paramilitärischer Wehrverband in der Weimarer Republik und bestand vorwiegend aus Freikorps-Mitgliedern und Offizieren niederer Dienstgrade. Das sind genau die Sorte Mann, die Theweleit in seinen „Männerphantasien“ akribisch analysierte – zutiefst autoritär und antidemokratisch, gewaltverherrlichend und -bereit, getrieben von Hass gegen und Angst vor Frauen, unfähig zu kommunikativer Sexualität.

Die „Organisation Werwolf“ war (WIKIPEDIA) „eine nationalsozialistische Organisation zum Aufbau einer Untergrundbewegung am Ende des Zweiten Weltkrieges, die im September 1944 von Heinrich Himmler als Minister und Reichsführer SS gegründet wurde.“ Die „Werwölfe“ sollten in besetzten oder deutschen Gebieten, die von der Wehrmacht aufgegeben werden mussten, Anschläge gegen alliierte Truppen verüben, sich also von unauffälligen Dorfbewohnern in Bestien verwandeln, so wie es Islamisten z. B. in Afghanistan und im Irak praktizierten. Der Werwolf war (und ist) der faschistische Superheld, mit der Superkraft der Verwandlung in ein mordendes Monster.

Mein Vater gehörte keiner der beiden Organisationen an, aber er hatte als Wehrmachtssoldat noch am Krieg in Frankreich und Russland teilgenommen. Er erzählte nie von Kämpfen, sein einziges Opfer, das er zugab, war ein Hund gewesen, den er nachts auf Wache aus Versehen erschossen haben wollte. Doch er selbst war unübersehbar Opfer des Krieges. Er war bei einem Granatenangriff schwer verwundet und schon aufgegeben worden. Nur zufällig entdeckte jemand, dass einer der eingesammelten, zerfetzten Körper auf dem Pritschenwagen noch lebte. Mit Splittern im ganzen Körper, einem entstellten Gesicht und einer verstümmelten rechten Hand verließ mein Vater später das Lazarett. Ich erwähne das nicht nur, weil es ohne Zweifel ein schweres körperliches und seelisches Trauma für ihn bedeutete, sondern weil er später mit aller Gewalt dafür sorgte, dass ihn niemals wieder jemand übersehen oder vergessen würde. Seine für jeden sichtbaren Verstümmelungen mussten für den jungen, eigentlich attraktiven Mann eine Qual gewesen sein, eine unerträgliche Entwertung, nicht zu reden von den posttraumatischen Belastungen seiner Psyche. Wie alle seine Schicksalsgenossen des Weltkriegs hat er sich niemals in Therapie begeben. Aus Nazizeit und Krieg schwappte, wieder einmal, eine Generation der Versehrten und Traumatisierten in die „zivilisierte Welt“. Hatten nicht schon ihre traditionell brutale und empathielose Erziehung sie zu „Werwölfen“ gemacht, so hatte dies nun der Krieg erledigt, zu dem sie angeblich geboren und bestimmt gewesen waren. Das Monstrum hatte sie gebissen, und sie, die Überlebenden und ihre Angehörigen, durchlebten nun immer und immer wieder die grausamen Verwandlungen des Mannes.

Seine schier unüberwindbare und lang anhaltende Bedrohungsmacht erhielt der Werwolf für mich aber erst durch einen zweiten Umstand. Innerhalb unserer Familie gab es keinen Zweifel darüber, wer „der Böse“ war. Aber auch darüber, wer unter ihm am allerschlimmsten zu leiden und daher unser Mitleid und unseren Beistand verdient hatte: unsere Mutter. Kinder denken so, sie fühlen sich sogar selbst mitschuldig am Leid ihrer Eltern. So kam es, dass unser Vater in uns Kindern über die Jahre hinweg neun Opfer, Knechte, Unterworfene (und praktischerweise immer wieder zu Unterwerfende), und unsere Mutter ihre Leibgarde und neun bedingungslos an sie Gekettete fand. Sie beließ es allerdings nicht dabei, unternahm auch nichts zur Besserung der Situation, sondern, und hier komme ich auf die „Propaganda“ zurück, beteuerte immer und immer wieder, dass alle Männer gefährlich seien. Sie kenne nur zwei Ausnahmen, ihren im Krieg gefallenen Bruder und einen Offizier, der sich ihretwegen selbst erschossen haben sollte – zwei tote Männer also. (Auch sie war ausgiebig „gebissen“ worden, als Kind, als Jugendliche, als junge, wehrlose Frau unter sowjetischen Besatzungssoldaten.) Ob sie sich darüber klar war, dass sie ihren Söhnen eine Art Auftrag erteilte, weiß ich nicht. Darin im Angesicht von vier werdenden Männern aber keinen Wunsch zu erkennen, ist kaum möglich. Von dort bis zu dem, was ab jener Nacht im Mai 1977 mit mir vorging, ist es kein großer Schritt. Im Alter von zwölf Jahren, an der Schwelle zur ganz und gar unvermeidlichen Pubertät, vom Anblick des mordenden Wolfsmannes wie durch einen Katalysator beschleunigt, ergriff, unbemerkt von mir selbst, ein nicht zu umgehender Befehl Besitz von meinem Unterbewusstsein:
Niemals darfst du so werden!
Niemals darfst du ein Werwolf werden!
Niemals darfst du ein Mann werden!
Das zähnefletschende, mächtige, alles verschlingende Monster war ab sofort das dräuende Schicksal über meinem Leben, erwartete mich in dunklen Ecken, stand vor der Tür, im Garten, hinter der Treppe. Ich verkroch mich vor ihm unter meiner Bettdecke, flüsterte Beschwörungsformeln, um es zu vertreiben, aber trotzdem und unübersehbar wurde ich jeden Tag immer mehr zu einem Mann.

[…]

Soweit die erste Hälfte des Essays. Sie finden den gesamten Text in einem Büchlein im Handel und bei b.o.d.


Hier können Sie die wichtigsten im Text genannten Bilder und Videos ansehen:

„Der Werwolf“ oder „Der Kannibale“, Lukas Cranach d. Ä.
https://de.wikipedia.org/wiki/Werwolf#/media/Datei:Werwolf.png

„Der Werwolf von Washington“ orig.
https://www.youtube.com/watch?v=72KAuDkTV9U

Rosaria Schifani (der beschriebene Moment findet sich zw. 0:50 und 1:10)
https://www.youtube.com/watch?v=X9jL35S_QRk

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