Schau doch, da ist nichts.

Eine Einladung zur Salonage „Männerart – alte und neue Männerbilder“ von Isobel Markus am 18. November dieses Jahres in der Lettrétage/Studio acud gab den Anstoß, meinen Essay „Mein Werwolf“ auch in voller Länge und in Buchform dorthin mitzubringen. Ohne lange Planung und in kurzer Frist veröffentlichen heißt: selbst veröffentlichen. Das Booklet erscheint heute im Handel.

Über seinen langjährigen geheimen Begleiter und die Ursachen und Umstände von dessen Existenz wollte der Autor Michael Wäser schon oft schreiben. Doch erst nach der Fertigstellung seines dunklen „Heimat-Romans“ Das Wunder von Runxendorf schienen alle Teile am rechten Platz. „Mein Werwolf“ ist ein sehr persönlicher und zugleich ins Historische ausgreifender Essay.

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Mein Werwolf. Lesen einer Fährte

Ein Essay über Angst, Männer und die zerstörerische Kraft des Verschweigens (Auszug)

Dies ist ein recht langer Essay. Ich empfehle, möglichst die „Leseansicht“ Ihres Browsers zu verwenden.

Ein US-Straßenkreuzer fährt nachts eine Tankstelle an. Während sich das schaukelnde 70er-Jahre-Ungetüm der Zapfsäule nähert, wird auf dem Dach der Limousine kauernd eine Gestalt erkennbar. Es ist ein Wesen mit menschlichem Körper in einem Smoking, aber mit behaarten Füßen, Klauen und einem gänzlich behaarten Wolfsgesicht mit mörderischen Fangzähnen. Es wartet ab, bis die Fahrerin des Wagens aussteigt und stürzt sich dann, als sie es bemerkt und schreiend im Tankwarthäuschen Schutz suchen will, auf sie. Schnitt.

Der Film „Der Werwolf von Washington“ von 1973 wurde am 4. Mai 1977 im Deutschen Fernsehen im Spätprogramm gesendet und ist ein eher untypisches Beispiel für das kritische, politische, junge US-Kino der damaligen Epoche. Und er machte mir, dem es irgendwie passiert war, viel zu spät in genau dieser Mittwochnacht vor dem einzigen Fernsehgerät im Haus zu sitzen, ein unbeabsichtigtes Geschenk. Er schenkte mir die Angstfigur, die augenblicklich alle bisherigen aus meiner Psyche verjagte und für die nächsten fast dreißig Jahre die Herrschaft über meine Amygdala, mein neuronales Angstzentrum, übernahm und weit, sehr weit darüber hinaus.

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Was uns kenianische Paviane über Jahrtausende der Gewalt zwischen Menschen sagen können

Wie viel Pavian steckt im Menschen? Man muss in der Hierarchie der biologischen Systematik ziemlich weit nach unten scrollen, um auf die Stelle zu stoßen, ab der unsere Gemeinsamkeiten enden: die Teilordnung „Altweltaffe“. Paviane und Menschen sind beides Altweltaffen. Weiter unten in der Systematik kommen nur noch zwei Obergruppen, „Familie“ und „Gattung“, die bei Pavianen anders lauten als bei uns. Doch die vorangestellten gemeinsamen Zugehörigkeiten und die daraus ersehbare Jahrmilliarden dauernde gemeinsame – nein, identische – Evolutionsgeschichte lassen schon erahnen, dass uns mehr verbindet, als dass wir an verschiedenen Ecken derselben Straße wohnen.

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Wir müssen reden. Europa

DSCF5573Seit den türkischen Parlamentswahlen, deren Ausgang Präsident Erdogan nur als Demütigung und Gefährdung seiner Machtansprüche auffassen konnte, habe ich mich gefragt, wie er darauf reagieren würde. Dass er eine Beschneidung oder gar den Verlust seiner immer autoritärer gewordenen Herrschaftsausübung nicht hinnehmen würde wie ein demokratisches Staatsoberhaupt es tun sollte, schien vollkommen klar. Doch die Niederlage kam für ihn so überraschend, dass er Zeit brauchte, eine Strategie zu entwickeln, denn er hatte wohl keinen fertigen Plan in der Schublade. Nun ist jedoch offensichtlich, zu welchen Schlüssen er gekommen ist. Er erklärt die Rechte und die demokratische Teilhabe des kurdischen Teils seines Staatsvolkes für entbehrlich, indem er den Friedensprozess beendet und die PKK wieder beschießt, statt mit ihr zu verhandeln, indem er sie und nicht den IS zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Das also ist seine Antwort auf die Gefährdung seiner Macht und der Macht seiner Partei in der Türkei, auf das Votum seines Volkes, welches mit seiner immer weiter vorangetriebenen Anhäufung von Macht und ihrer immer kompromissloseren Durchsetzung nicht mehr einverstanden war. Für Erdogan gibt es scheinbar nur Freunde oder Feinde. Demokratischer Kompromiss und Auseinandersetzung scheint ihm zuwider, sein mörderischer Armeeeinsatz, der die Türen zum Dialog für lange Zeit verschließen wird, ist eindeutig. Weiterlesen

Was Mörder macht

Sowjetrussischer Serienmörder und Islamischer Staat, Anders Breivik und Hitlers willige Vollstrecker – Citizen X und Das Lachen der Täter DSCF2881 Der wohl schmerzhafteste Moment dieses Films ereignet sich, als er beinahe zu Ende ist. Es ist zugleich sein schönster und erschreckendster Moment. Und vermutlich einer der erhellendsten in der Filmgeschichte, wenn es um die Kräfte geht, die aus Menschen Mörder machen oder eben nicht.

In dem US-amerikanischen TV-Spielfilm „Citizen X“ von 1995 geht es um den authentischen Fall des Serienmörders Chikatilo, der von den siebziger bis neunziger Jahren in der damals sowjetrussischen Stadt Rostow über fünfzig Minderjährige bestialisch missbraucht und ermordet hat. Nach quälend langwierigen und erfolglosen Ermittlungen des mit der Tätersuche betrauten Gerichtsmediziners, die erst vorangekommen sind, nachdem Gorbatschows Perestroika die kommunistischen Seilschaften der Stadt und des Oblast größtenteils weggefegt hat, sitzt der Täter in der Verhörzelle und will weder reden noch gestehen. Was die Zuschauer des Films bis zu diesem Punkt miterleben mussten, ließ ihnen mehr als einmal die Haare zu Berge stehen. Nicht nur, weil sie Zeuge mehrerer dieser Morde wurden, sondern auch Zeuge der Halsstarrigkeit, mit der die Parteifunktionäre die Ermittlungen über mehr als zehn Jahre hinweg knebeln, instrumentalisieren, beeinflussen, ja verhindern, nur damit nicht publik wird, dass es in der Sowjetunion, genau wie im „dekadenten Westen“, Serienmörder gibt. Nicht wenige Kinder verloren auch deshalb ihr Leben, der Ermittler erlitt mehrere Nervenzusammenbrüche, ein leichtfertig Verhafteter erhängte sich in seiner Zelle. Kurz vor Schluss nun ist der mutmaßliche Täter gefasst und soll gestehen, weil man ihm die Verbrechen nicht nachweisen kann. Doch er schweigt oder weicht dem hilflosen Druck des Parteikommissars aus, indem er über Banalitäten redet. Weiterlesen